HEINER MÜLLER IM SPIEGEL DER NACHRUFE
[ZURÜCK ZUM INHALT]

3.4 Offenheit

Heiner Müllers Werk ist eine Herausforderung an den Rezipienten. So monumental und zynisch seine Texte wirken, so sehr erwartet Müller die künstlerische und geistige Mitwirkung von Schauspielern und Zuschauern. Während die Kunst bei anderen das Ergebnis des schöpferischen Akts des Autors ist, bezieht Heiner Müller den Rezipienten in das Gesamtwerk »Kunst« mit ein. Der Autor kreiert nur die Ur-Idee:»Müller dichtete selbstzerstörerisch. Er vernichtete den Autor in seiner traditionellen Form. Der galt ihm bloß noch als Anstifter von Prozessen, nicht als Produzent. Diese Rolle gab er an den Leser, an den Zuschauer.« Der Regisseur »forderte [...] vom Publikum einen wachen Geist, eine neugierige Phantasie. Er forderte wieder den Rezipienten, der mitproduzieren mußte. Und er überforderte viele.« 94 Denn:Sein Theater entfernt sich von der Gegenwart, von seinen Charakteren. Die Texte Müllers »machen es dem Theater schwer. Denn es muß sich diese Arbeiten erobern. Statt der Handlung gibt es nur die Sprache. Manche seiner Stücke gelten als unspielbar allein deshalb, weil sie eine neue Theatralität erfordern, die Abschied nehmen muß vom Zentrismus des Subjekts.« 95

Auch in seinen Inszenierungen und in seiner Arbeitsweise spiegelt sich diese Grundlage wider:»Der Fehler, das vermeintlich Falsche, wurde mitgeschleppt und oft bis zur Aufführung hingepflegt und gepeppelt, solange er Öffnung produzierte. [...] Heiner Müller [...] war angewiesen auf selbständige und technisch versierte Schauspieler, suchte aber immer nach größtmöglicher Durchlässigkeit, nach dem Schauspielerischen Unfall sozusagen.« 96 Das Theater muß Fragen offenlassen; es muß sie sogar stellen. Die Offenheit im Werk übertrug sich auch auf andere Regisseure:»Diese Texte schienen nach einem neuen Theater zu schreien, nach neuen Stilen und Spielräumen[.]« 97

weiter: 4 Heiner Müllers Bedeutung für das deutschsprachige Theater
zurück: 3.3.3 Charakterisierung Heiner Müllers