HEINER MÜLLER IM SPIEGEL DER NACHRUFE
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4 Heiner Müllers Bedeutung für das deutschsprachige Theater

Kurz Heiner Müllers Tod versammeln sich Tausende zu einem »Lesemarathon« im Berliner Ensemble. Schauspieler, Regisseure und Schriftsteller beteiligen sich spontan an einem Theaterereignis, »wie es keinem anderen deutschen Gegenwartsautor je zuteil wurde.« 98 »Der Tod bedeutet nichts. Das Wichtigste an einer Person sind die Folgen.« 99 sagte Heiner Müller einmal. Sein Leben hat Folgen.

Schon 1980 bezeichnet man ihn als »de(n) sprachmächtigste(n) und politisch wie theoretisch strengste(n) und anspruchsvollste(n) Dramatiker im deutschsprachigen Raum.« 100 Müllers Dramen werden in Frankreich, Spanien, Italien, Holland, den USA, Japan und Korea sowie im Nahen Osten aufgeführt. 101 Müller gilt als der wichtigste deutsche Dramatiker neben Bertolt Brecht. Die Bedeutung eines Künstlers ist auch an der Größe der von ihnen geschaffenen Innovation zu messen. Müller geht neue Wege:»Er wollte weg von den Artigkeiten der gesitteten Welt.« 102 Ohne belehren zu wollen, verkörpert er den bitteren Zynismus, der nichts entschuldigt und alles intensiviert. Müller zeigt einen anderen Umgang mit Geschichte:Die Schwächen des Menschen wurden miteinbezogen. Müller bildet einen Gegenpol zum Optimismus des Sozialismus, zum vermeintlich Schönen in der Literatur.

Auch sprachlich zeigte Müller neue Wege. 103 Inwiefern diese bleibenden Einfluß auf die deutschsprachige Literatur und Dramatik haben, wird sich erweisen.

Heiner Müller ist für viele Symbol. »Der letzte Held der DDR« (SPIEGEL) gibt denjenigen Identität, deren Staat untergegangen ist. Er ist »ein Teil DDR-Geschichte«, etwas, das Ostdeutsche für sich beanspruchen. Müller ist nicht verwurzelt im System des DDR-Staates, sondern in der Idee, die der DDR zugrundelag:»'Natürlich war Müller antiwestlich - Gott sei Dank', sagt eine junge Frau, für die der Tote Symbol des DDR-eigenen Widerspruchsgeistes war, eine komplexe Identifikationsfigur, die den objektiven Zynismus reflektierte und aussprach, was andere sich nicht trauten. Doch er war auch loyal, sah die DDR als legitime Negation des anderen deutschen Staates. Seine Loyalität war ihre, ist ihre:ex negativo. So ist seine Biographie Teil ihrer Biographie.« 104

Was bleibt? Die Autoren der Nachrufe sind sich uneinig. Peter Iden verbindet Müllers Wirkung mit der realen Existenz seines Materials:»Indem er es auf die Bühne zwang, hat das 'Material' diesen Autor gebildet - solange es währte. Müllers Kraft und seine Wirkung reichten bis dahin.« 105 Der Sozialismus ist abgeschlossen, also ist er auch kein Thema der Kunst. Auch bei Jürgen Busche klingt dieser Gedanke an:»Die DDR, sagte er einmal, war sein Material. [...] Ebenso war die Geschichte sein Material. Er plünderte sie theatralisch aus. Seine Stücke sind Material für das Theater. Das werden sie bleiben, solange für das Theater da etwas zu holen ist.« 106 Gerhard Stadelmeier ist der Meinung, daß Müllers Theater schon seit der Zusammenbruch des Kommunismus ihre Wirkung verloren haben. »Müllers Stücke wirken seit 1989 wie Grabplatten.« 107 Diese Aussagen sind ein Zugeständnis an die auch in der DDR fortgeführte Tradition, Kunst sei dann »en mode«, wenn die politischen Aussagen dieser Kunst gesellschaftsfähig sind. Wolf Biermann glaubt nicht an den Tod des Werkes. Der Künstler lebt in seiner Kunst weiter. »Heiner Müller [...] ist nicht tot. Er hätte [...] vielleicht [...] formuliert:Ihr werdet noch lange an meiner Leiche zu kauen haben.« 108 Auch nach Michael Schindhelm ist Müllers Werk »noch lange nicht am Ziel« 109 . Für Günther Rühle sind Müllers Stoffe nicht in der DDR verwurzelt, sondern liegen in der menschlichen Existenz selbst:»[Er sagt], er habe die DDR gebraucht. Sie sei das Material gewesen, in dem er wohnte, das er nützte. Die Stoffe seines Lebens sind das Crash-Material eines Zusammenstoßes und eines Zusammenbruchs, er selbst Material für unser Denken. Was er schrieb, ist darum nicht untergegangen mit dem Staat[.]« 110 Die Frage nach der Dauer seines Werks entscheidet sich für Rühle an dessen literarischen Qualität. Dies »wird die Zukunft erweisen.« 111

Für Gisela Sonnenburg wird Müller das »Sprachrohr kommender Generationen«. Gewinnen die Aussagen seines Werkes erneut an Bedeutung?

In Heiner Müllers Werk ist noch viel verborgen. Es zu entdecken, bleibt uns und denjenigen, die auch nicht an seiner Utopie teilhaben werden.

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