HEINER MÜLLER IM SPIEGEL DER NACHRUFE
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3.3.2 Heiner Müllers Zynismus

»Der Mensch ist etwas, in das man hineinschießt, bis der Mensch aufsteht aus den Trümmern des Menschen.« 75 So kompromißlos formuliert Heiner Müller eine Erkenntnis, die sein Werk prägt. Sie ist wie sein Gesamtwerk apokalyptisch geprägt, doch entbehrt sie nicht immer der Hoffnung. Müllers Einstellung wandelt sich:Während er bis in die siebziger Jahre auf eine bessere, sozialistische Welt hoffte, stellt sich dann Resignation und Zynismus ein.

Müller strebt nicht mehr danach, Lösungen zu finden. Er will Probleme zur Diskussion stellen. 76 Warum geht Müller den Weg der Desillusion, den Weg in die Hoffnungslosigkeit? Kaum ein Autor hört auf zu hoffen. Die Hoffnung als Antrieb des Schreibenden - das gilt nicht für Müller. Sein Antrieb liegt in Vergangenheit und Gegenwart.

Die Autoren der Nachrufe finden verschiedene Gründe. Durch seinen Zynismus schafft er Distanz zu Brecht, dessen Lehrstücke zu einfach, zu plakativ erscheinen. »Müllers sogenannter Zynismus war wohl zuerst (und bis zuletzt) eine Abwehrwaffe gegen Brechts ominöse 'Freundlichkeit' - die einen ohnehin, weil sie ein Kopf- und Kunstprodukt ist, immer ein bißchen frösteln läßt.« 77 Müllers Zynismus ist eine Abwehrwaffe gegen den positivistischen sozialistischen Realismus; er ist eine Absage an die Welt, gegen die menschliche Grundeinstellung des Optimismus.

Gisela Sonnenburg kommt zu dem Schluß, daß Müller »ein direkter Nachfahre seines [Brechts] Geistes ist, vor allem als Fortführer der 'Lehrstücke'.« 78 Wer Menschen lehrt, hofft auf eine bessere Welt. Sonnenburg zeigt Müller als »Visionär«. Ein Visionär blickt nach vorn:im üblichen Verständnis des Wortes sieht er eine weiterführende Zukunft für den Menschen. Ein Zyniker kann er in ihren Augen nicht sein.

Der Zynismus ist eine der Masken des Autors:»Ruhelos versteckte er den marginalisierten Intellektuellen im Kostüm des Untergehers, der im 'Casino der Weltgeschichte' nicht das Heil, sondern die Diagnose bringt.« 79 Diese Maske ist eine logische Folge seines Lebens. »Der sogenannte Weltschmerz entsprang dem Leiden an einer verachteten Wirklichkeit. Dies war tiefer gesellschaftlicher Ekel.« 80 Der Untertitel der Autobiographie Müllers lautet »Leben in zwei Diktaturen«. Er sieht Menschen, die beherrscht sind von Staat und Ideologie. Er beschäftigt sich mit Revolutionen, die über ihre Gründer hinauswuchsen. Müller erlebt den Untergang zweier Staaten. Für ihn ist »das Wort 'Freiheit', unter dem Zement des Grundgesetzes begraben, der größte Treppenwitz der Weltgeschichte« 81 . Er schreibt von der Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber dem selbsterschaffenen Staatssystem. Die Erkenntnis der Perspektivenlosigkeit bewegt ihn dazu, die wirklichkeitsbezogenen Schlußfolgerungen, die sich aus seinen Werken ergeben, den Rezipienten zu überlassen. Er gibt keinen Weg vor, da der Einzelne (der Autor) machtlos bleibt. Deshalb verdeutlicht er Probleme, anstatt Lösungen zu zeigen. »Wenn man ihn fragte, ob er einem Bettler etwas geben würde, blickte er aus dem CafÈ hinaus auf die Straße und antwortete:'Nein, ich stecke mir eine extra dicke Zigarre an, bestelle mir einen besonders teuren Whisky und führe ihm vor, wie gut es den Reichen geht. Das wird seinen Zorn wecken.« 82

Heiner Müller schreibt dem »20. Jahrhundert, das so hoffnungs-, kampf- und veränderungswillig war, [...] den Abgesang« 83 . In Müllers Theater vermischen sich Zeiten:»Quartett« spielt in einem »Salon vor der Französischen Revolution / Bunker nach dem dritten Weltkrieg«. Die Stücke lösen sich von jedem Zeitrahmen. Die positiv gesehene Zukunft gehört nicht dazu. Dies ist Heiner Müllers Zynismus, »jeder [...] eine lebendig begrabene Hoffnung.« 84

Er ist eine Absage an alle denkbaren Ideologien:Sie waren die Ursache für die großen Schlachten, von denen Heiner Müller schrieb. »Mit ihm war kein Staat zu machen« 85 .

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