HEINER MÜLLER IM SPIEGEL DER NACHRUFE
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3.2 Annäherung der Nachrufe an Heiner Müllers Werk

Die Nachrufe, die sich Heiner Müllers Kunst nähern, tun dies auf unterschiedliche Weise. Viele Ansätze sind fragmentarisch:kurze Zitate aus seinen Werken werden eingebracht, einzelne Stücke inhaltlich zusammengefaßt. Hier ist eine Analogie zu Wuttkes Aussage über seine Annäherung an den Dramatiker Müller zu beobachten:»Mir blieben im Kopf zunächst nur Fetzen und Bruchstücke von Texten, die wie Gespenster immer wieder in meinen Gedanken auftauchten, zunächst zusammenhanglos und unerklärt. Dann wurden mir die Texte zu Landschaften.« 40

Die Autoren zitieren überwiegend radikale Aussagen wie »DER TERROR(,) VON DEM ICH SCHREIBE(,) KOMMT AUS DEUTSCHLAND« 41 und »Der Tod ist die Maske der Revolution. Die Revolution ist die Maske des Todes.« 42 Sie sollen die künstlerische und politische Einstellung Müllers verdeutlichen. Einige Autoren verzichten weitgehend auf Zitate aus Müllers Werk (Busche, Sucher, Rühle, Widmann, Henrichs) zugunsten dessen Interpretation. Busche, Henrichs und Widmann ist entgegenzuhalten, daß sich ihre Nachrufe von Müllers Werk entfernen. Doch vermeiden sie das Zusammenhanglose, das manchen Nachrufen anzumerken ist, die sich an Zitaten orientieren (Sonnenburg). Biermann zitiert zahlreiche andere Autoren im (geistigen) Umfeld Müllers, sich selbst nicht ausgenommen. Seine Zitate betreffen in erster Linie den politischen Diskurs und seine Beziehung zu Heiner Müller.

Rühle nähert sich Müllers Werk auch auf biographischer Ebene. »(Z)uhörend den Flüchtlingen und den Heimkehrern aus dem Kriege, sammelte er seine Stoffe.« »Die Enttäuschung dieses politischen Aufbruchs nachvollziehend, erschien Müller selber immer wieder als die Leidens-, Trauer- und Menetekelfigur in der Sache, die er dichterisch kommentierte.« 43

Alle Autoren sind bemüht, einen substantiellen Ausgangspunkt der Werke Müllers zu finden. Müller selbst dichtet:»DER TERROR, VON DEM ICH SCHREIBE, KOMMT AUS DEUTSCHLAND« 44 . Das bezieht sich auf beide Teile Deutschlands:»Heiner Müllers Texte erzählen von Deutschland und seiner Misere, nicht nur der DDR« 45 . Die Dialektik zwischen Ost- und Westdeutschland, die konträren Weltanschauungen der beiden Seiten sind eine seiner Quellen:»Sein Element war der Kalte Krieg« 46 . Dazu ist auch der Aufbau dieser Trennung zu zählen. Revolution und Tod sind Ursprünge seines Schaffens:»Kunst hat und braucht eine blutige Wurzel.« 47 Dazu gehört auch der Verrat, den Wolf Biermann als zentrales Thema Müllers sieht:»Müller hinterläßt uns ein Revolutionspanoptikum über das eine große romantische Thema:die verratene Revolution. Verrat Verrat Verrat - das ist das immer gleiche Garn, mit dem er alle seine Stoffe zusammengenäht hat.« 48 Auch Iden und Stadelmeier erwähnen den Verrat als Thema Müllers. Der real existierende Sozialismus, »Geschichten aus der Produktion« 49 und seinem Aufbau waren frühes, nach C. Bernd Sucher auch besonderes Material. Die Antike ist weiteres Material. Doch auch die Wirkung von Stücken wie »Philoktet« ist im Kontext der sozialistischen Geschichtsbetrachtung zu verstehen. Rühle faßt Müllers Stoffe zusammen:»Die Stoffe seines Lebens sind das Crash-Material eines Zusammenstoßes und eines Zusammenbruchs, er selbst Material für unser Denken.« 50

Für die Wirkung von Müllers Texten finden die Autoren der Nachrufe eindrucksvolle Metaphern. Als »Croupier der Apokalypse« 51 kreist der »König der Geier« 52 über »verkommenen Ufern« 53 . Müllers Theater wurde so zur »großen Nacht der reitenden Leichen« 54 . Stadelmeier sieht einen großen Zusammenhang in Müllers Werk:»Das geköpfte und ermordete Alte schwärt und wuchert und wächst nach im Neuen wie ein Krebs.« Die Revolution, die ihre Kinder frißt. Die Revolutionäre, die zu dem werden, was sie abschaffen wollten. Der Tod als ewigwährender Archetyp menschlichen Daseins:»Der Tod ist die Maske der Revolution. Die Revolution ist die Maske des Todes.« 55

Auf die Offenheit des Werkes legen Sucher und Wuttke besonderen Wert.

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